Baustein: Unmittelbarkeit im Unterricht

 

 

Die ursprüngliche Unmittelbarkeit

 

Bei kleinen Kindern ist die Unmittelbarkeit direkt wahrzunehmen. Sie sind an einem Gegenstand interessiert und untersuchen ihn. Sie sind ganz und gar interessiert, bis in die Fußspitzen hinein. Ihre Aufmerksamkeit ist ungeteilt auf den Gegenstand gerichtet. Ihr Körperausdruck spiegelt ihre inneren Prozesse wieder. Sie sind versunken in ihre Erkundung. Und ebenso schnell und intensiv, wie sie ihre Erkundung begonnen haben, wenden sie sich auch ab, wenn sie „genug“ haben. Zwischen dem, was sie untersuchen, und ihrem Untersuchungsgegenstand steht nichts dazwischen, ist keine Vermittlungsinstanz wahrnehmbar.

 

 

Das Dazwischen schieben von Mittlern

 

Die elterlichen Bezugspersonen sind oft die erste Vermittlungsinstanz, die sich zunächst von außen zwischen das Kind und den Gegenstand „schiebt“. Die Eltern bestätigen das Kind in der Untersuchung „Du spielst aber schön“ oder sie behindern es an der Untersuchung „das ist bah!“. Das Kind lernt mit der Zeit, auf die Eltern zu schauen, wenn es etwas untersucht, um deren Reaktion abzuschätzen. Dann wird die bewertende Instanz nach innen gewendet. Wenn es eine Weile im Kinderzimmer sehr ruhig zugeht, ist dies oft ein Hinweis, das das Kind etwas „untersucht“, von dem es annimmt, dass die Eltern damit nicht einverstanden sind. Auch wenn sich das Kind in die Untersuchung nach wie vor vertiefen kann, ist die Unmittelbarkeit schon verloren.

Als Erwachsenen ist nur noch sehr wenig unmittelbar. Oft stehen Kosten/Nutzenerwägungen zwischen der Neugier und der Erkundung. Schon das Wort „Inter-esse = dazwischen sein“ bringt die fehlende Unmittelbarkeit zum Ausdruck. Zumeist steht jedoch die Person zwischen der Neugier und der Erkundung.

 

Exkurs: Der Bewusstseinszustand Persönlichkeit als „Mittler“

Die Persönlichkeit ist ein besonderer Zustand des Wachbewusstseins, der von uns jedoch wegen seiner Vorherrschaft nicht in seiner Besonderheit erkannt wird. Er wird stattdessen als „normal“, „selbstverständlich“ und als „gewöhnlich“ eingeschätzt. Ich bin wach, ich bin bewusst – das ist zunächst für mich die Realität. In unserer Kultur besteht ein Konsens darüber, dass dies das Normale ist, daher auch die Kennzeichnung als Konsensusbewusstsein. Die Kinder müssen diesen Zustand erst erlernen. Sie beginnen ohne Bewusstsein, entwickeln dann ein Bewusstsein des Seins und erst später das Konsensusbewusstsein „Persönlichkeit“.

 

Objekt-Beziehungsmuster

Dieser Zustand wird deshalb von mir als „Persönlichkeit“ benannt, weil er eine Besonderheit enthält, die gewöhnlich unbewusst verbleibt. In diesem Wachzustand ist eine dreiteilige Struktur eingezogen, die erstens aus dem „Ich“ und zweitens aus dem, was vom Ich wahrgenommen wird, was dem Ich gegenübersteht, dem „Objekt“ der Wahrnehmung, sowie drittens aus der „Beziehung“ zwischen den Ich und Objekt besteht. Wenn ich gewöhnlich wach bin, dann nehme ich alles durch den Filter dieser Struktur wahr. Beispiele: „Ich gähne“ – also ist ein Ich in Beziehung mit gähnen, „Ich rede – mit mir, zu mir oder zu anderen“ – also ist ein Ich in Beziehung mit Reden usw. Diese Struktur, dieses „Dreierpack“ wird psychologisch auch „Objekt-Beziehung“ genannt.

Wir deuten das Ergebnis der durch diese Struktur, der durch diesen Filter zustande kommende Wahrnehmung als Realität, weil eine unabhängige Wahrnehmung nicht möglich erscheint. Ein blinder Mensch kann die Realität nicht „sehen“. Wir können gewöhnlich eine durch die Persönlichkeit ungefilterte Realität nicht wahrnehmen.

Beispiel: Kinder sind neugierig und wollen sich alles einverleiben oder in einer späteren Entwicklungsphase untersuchen. Wenn ein Kind das erste Mal einen Hund „einverleibt“ oder „untersucht“, bildet sich eine Objektbeziehung Ich-Hund-Gefühlsbeziehung heraus. Diese wird erinnert und gleich als Vorlage für einen weiteren Hundekontakt genommen. Hunde lassen sich gewöhnlich von kleinen Kindern viel gefallen. Doch nicht alle Hunde. Manche drohen oder beißen. Dann kann sich die Objektbeziehung zwischen dem Kind und dem Hund dramatisch verschlechtern. Dieses traumatische Erlebnis bestimmt dann als eine Objektbeziehung die nächsten Erfahrungen mit Hunden, oft ein Leben lang.

Diese zuerst gebildete Struktur, also das erste Erlebnis, wird erinnert. Je stärker der emotionale Gehalt des Bezuges, desto mehr wird schon das erste Erlebnis die prägende Objektbeziehung. Das nächste ähnliche Erlebnis bildet eine weitere Struktur, welche die erste verstärkt, differenziert oder abschwächt. Auf diese Weise bilden sich für ähnliche Erlebnisse, Situationen oder Kontexte Objekt-Beziehungshaufen, Komplexe, Muster. Diese Objektbeziehungshaufen nenne ich Persönlichkeitsmuster oder auch Teilpersönlichkeiten. Die vollständige Persönlichkeit kann als eine Ansammlung von Persönlichkeitsmustern gesehen werden.

Übung: Wie ist wohl Dein Verhalten gegenüber Hunden zustande gekommen? Und versuch doch mal etwas bewusst zu erleben, was nicht durch diese Struktur vorgeformt ist.

 

Im Folgenden werden die drei Bestandteile der Objektbeziehung einzeln erläutert.

Bestandteil „Ich“

Durch das Ich wird unsere Ich-Identität bestimmt. Dadurch, dass mit Hilfe dieser Struktur jedes Mal ein „Ich“ vorkommt, gehen wir davon aus, das eine Konstante, nämlich ein immer gleich bleibendes „Ich“ seit wir denken können durch eine sich ständig veränderte Welt geht. „Ich“ bin scheinbar immer gleich obwohl wir durch unsere emotionalen Zustände und durch die verschiedenen Ichs beim Einnehmen unterschiedlicher Rollen wissen könnten, dass das „Ich“ nicht konstant, sondern an bestimmte Objektbeziehungen geknüpft ist. Eigentlich sind es verschiedene „Ichs“, „Identitätskerne“, die sich um Objektbeziehungshaufen herum gruppieren. Nur die Struktur als solche bleibt seit der Bildung der Persönlichkeit gleich.

Diese als Teil von Objektbeziehungen gebildete „Ich-Identität“ wird leicht mit einer anderen psychischen Struktur verwechselt, dem „teilnehmenden Beobachter“. Diese letztgenannte Struktur „beobachtet“ nur und ist nicht mit der emotionalisierten „Ich-Identität“ verbunden.

Bestandteil „Objekt“

Das Objekt ist für mich die jeweilige innere oder die äußere Realität.

Beispiel: Ich stoße mich an einem Tisch. Damit kommen die Objekte „Tisch“ und das, womit ich mich stoße, vielleicht ein Bein, die Hüfte oder anderes als in diesem Fall äußere Realität ins Bewusstsein.

Objekte können alles sein: Menschen, Tiere, Natur, Begriffe, Glaubenssysteme. Sie können als äußere Objekte oder als innere Objekte zugeordnet werden.

Bestandteil „Beziehung“

Die Beziehung zwischen „Ich“ und „Objekt“ ist im obigen Beispiel ein Schmerz. Dieser Schmerz wird als Gefühl kodiert, beim kleinen Kind als „Wut“ auf den Tisch, beim Erwachsenen als Unzufriedenheit oder Groll mit sich selbst oder mit anderen. In einer Objektbeziehung ist also stets ein Gefühl enthalten, das die Beziehung charakterisiert. Dies stimmt mit der Definition von Ulich überein: Ein Gefühl ist der Wie-bin-ich-Modus der Person-Umwelt-Beziehung. Wenn wir Emotionen als den gesamten gefühlsmäßigen Hintergrund auffassen, sind in den Emotionen der Anteil der Beziehungsmuster von Objektbeziehungshaufen gespeichert. Wir sprechen auch von den Einstellungen, die wir zu bestimmten Objekten entwickeln. Einstellung wird oft kognitiv verstanden. Doch eine Einstellung ist eine Gefühlsart.

In einer Metapher ausgedrückt ist die Beziehung wie der Klebstoff zwischen Ich und Objekt. Damit komme ich aus dem Exkurs über die Besonderheit von Persönlichkeit und Objektbeziehungen zurück zur Unmittelbarkeit.

 

 

Unmittelbarkeit und Identifikation

 

Unmittelbarkeit wird eindimensionaler, je stärker ich mit einem bestimmten Inhalt meines Bewusstseins identifiziert bin. Identifiziert heißt, dass ich mir den Inhalt zu Eigen mache. Das der Inhalt zu mir, zu meiner Person gehört. Identifikation bindet Bewusstsein.

Beispiel: Ich bin in einer Schulkonferenz sehr mit meiner Position identifiziert. Wir diese Position in Frage gestellt, dann werde ich in Frage gestellt. Und entsprechend reagiere ich dann.

Beispiel: Ich habe eine bestimmte Einschätzung vom Leistungsniveau einer Klasse. Wenn ich Signale wahrnehme, welche diese Einschätzung in Frage stellen können, dann bin ich geneigt, diese nicht wahrzunehmen, denn wenn ich meine Einschätzung verändern müsste, dann müsste ich mich in Frage stellen. Und ob ich das will?

Bin ich hingegen nicht oder nur wenig identifiziert, dann kann ich das, was ist, sein lassen. Ich hafte nicht an, mein Bewusstsein ist freier für das, was ist, was unmittelbar ist.

Sinnbild: In der Bühnensprache ist die Identifikation der Protagonist, der im Rampenlicht oder im Flutlicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Zuschauer steht. Je weiter die Schauspieler im Hintergrund der Bühne agieren, desto weniger Aufmerksamkeit erhalten sie, binden sie. Ich bin nicht identifiziert, wenn ich alles auf der Bühne in meine Aufmerksamkeit mit Interesse einbeziehe.

Sinnbild: Die Identifikation entspricht dem fixierten harten Blick, der weiche Blick ist nicht identifiziert.

 

 

Übung: Identifikationen wahrnehmen und verlassen

 

a) Identifizierung mit etwas im Außen

Schau Dich um im Raum und nimm wahr, was ist.

Fühlst Du Dich zu irgendetwas hingezogen? Löst irgendetwas eine Reaktion in Dir aus? Je stärker die Reaktion ist, desto eher wirst Du mit dem Gegenstand deiner Aufmerksamkeit identifiziert.

 

b) Identifizierung mit etwas im Innern

Spür in Dich hinein. Was wird Dir bewusst? Wie sehr bindet diese Wahrnehmung Dein Bewusstsein? Welche Reaktionen löst die Wahrnehmung aus?

 

c) Identifikationen verlassen (dis-identifizieren)

Nimm wahr, wie Du identifiziert bist. Entscheide Dich dazu, die Identifikation loszulassen. Richte Deine Aufmerksamkeit auf etwas im Außen (wenn Du mit einem inneren Objekt identifiziert bist) oder auf etwas im Innern (wenn Du mit einem äußeren Objekt identifiziert bist)

 

 

Die Landkarte dessen, was unmittelbar ist

 

Das, was gewöhnlich in der aktuellen Situation als Gegenwart erlebt wird, ist viel umfänglicher als es die normale Aufmerksamkeit zulässt. Gewöhnlich bin ich mit einem Gegenstand meiner Aufmerksamkeit identifiziert und nehme alles andere am Rande wahr. Dies ist wie ein Schnappschuss und ich verlasse mich auf dieses Foto. Das, was ich im Augenblick wahrnehmen kann, ist weitgehend durch meine Wahrnehmungsgewohnheiten strukturiert. Diese wiederum sind eine Kombination meiner Erfahrungen im Unterricht, mit dieser besonderen Klasse und den besonderen Schülern sowie meiner Persönlichkeit. Doch die Augenblicklichkeit ist weiter, tiefer, vielfältiger. Das Foto hat eine Tiefenschärfe in der noch viel mehr aufscheint als beim ersten Anblick. Die Augenblicklichkeit ist kein Bild sondern eine sich entfaltende Landschaft.

Besonders in Konfliktsituationen wird die Wahrnehmung des Augenblicks eingeschränkt. Ich nehme dann mehr Signale der Eskalation wahr und verpasse Signale der Deeskalation des Konfliktes. Wenn die Prozesse im Unterricht aus einer gelassenen Haltung mit mehr Bewusstheit wahrgenommen werden, also mit zusätzlicher „Tiefenschärfe“, dann können noch weitere Qualitäten wahrgenommen werden. Ich kann mich dann an den weiteren Qualitäten orientieren

 

 

 

Übung: Die Landkarte der Unmittelbarkeit wahrnehmen

 

·         Was ist jetzt?

·         Wo bist Du mit Deiner Aufmerksamkeit? Was nimmst Du wahr?

·         Bist Du damit identifiziert? Wenn ja, weite den Focus auf mehr aus. Beziehe weitere Aspekte des Hier und Jetzt in Deine Aufmerksamkeit ein.

·         Und was ist noch?

·         Beschreibe das, was ist und was noch dazu kommt.

 

 

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© Dr. Volker Buddrus