Dr. Volker Buddrus

 

Der Übergangsbereich in der Persönlichkeitsentwicklung

 

Inhalt

Erfahrungen im Bereich der Persönlichkeitsveränderung. 2

Erfahrungen im Übergangsbereich. 3

Seinserfahrungen. 3

Erleichtern von Seinserfahrungen. 3

Hindernisse im Sein zu sein. 3

Erkennen von Einzelheiten Deiner Persönlichkeitsstruktur 3

Die Sucht nach der Struktur und die Sehnsucht nach dem Sein. 4

Die Persönlichkeitstruktur als kondensiertes, doppelt reaktives Sein. 4

Methodische Wege der Verbindung mit dem Sein. 5

Seinorientiertes Handeln aus der Bewusstheit heraus. 5

Aufgeben der Identifizierung mit der Persönlichkeitsstruktur 5

Handeln aus dem Sein heraus nach einer Erkundung. 6

Handeln aus dem Sein heraus nach meditativen Übungen. 6

 

 

Du wirst auf Deinem Entwicklungsweg viele Erfahrungen machen, die jedoch auf unterschiedlichen Ebenen verlaufen. Die folgende Landkarte soll Orientierungshilfe für die Einordnung Deiner jeweiligen Prozesse geben. Selbstredend, dass diese Landkarte aufgrund meiner eigenen Erfahrungen gezeichnet wurde und für Dich auch ganz anders aussehen kann.

 

Die allgemeine Richtung der Persönlichkeitsentwicklung verläuft von der bisher ausgeprägten Persönlichkeitsstruktur, dem Ego, bis zum Handeln als Person aus dem Sein heraus. Diese Richtung kann in verschiedene Zonen eingeteilt werden, mit jeweils klar unterscheidbaren Phänomenen und Anforderungen.

 

Persönlichkeitsveränderung                  Übergangsbereich                      Selbstverwirklichung

 

Arbeit an Teilen der Persönlichkeits-    Erkennen der Struktur          Leben aus dem Sein her-

Struktur                                                  Lösen von der Struktur         aus mit Nutzen der Struk-

                                                                                                             tur als Ressource

 

 

 

 


Persönlichkeitsstruktur                   persönliche Seinserfahrungen                        Personelles Sein

 

 

Die oben dargestellte Grafik kennzeichnet einen idealen Verlauf, der so kaum eintreffen wird. Viel wahrscheinlicher ist die untere Kurve, immer wieder unterbrochen, weil der Prozess scheinbar nicht mehr weiter geht, vor und zurück, viele Um- und Lernwege. Dennoch ist auch hier die Großrichtung klar.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Der Ort der Wandlung ist der Übergangsbereich. Vor dem Übergangsbereich ist der Bereich der Persönlichkeitsveränderung, die Zone, in der an Ecken und Kanten der Persönlichkeitsstruktur gefeilt wird, um Leiden zu verringern. Nach dem Übergangsbereich ist die Seinsentwicklung, in der eine Entwicklung vom personalen zum absoluten Sein möglich ist. Zum Bereich der Seinsentwicklung werde ich aufgrund mangelnder eigener Erfahrungen nichts aussagen.

Erfahrungen im Bereich der Persönlichkeitsveränderung

Als Persönlichkeit bist Du mit Deiner Persönlichkeitsstruktur soweit identifiziert, dass Du überhaupt nicht wahrnimmst, dass Du innerhalb dieser Struktur lebst. Ich halte den Begriff der „Persönlichkeitsstruktur“ für aussagekräftiger als den auch verwendbaren Begriff des „Ego“ oder der „Persönlichkeit“. „Persönlichkeitsstruktur“ deutet auf eine Struktur aus Gedanken, Wissensbeständen, Glaubenssystemen, Handlungsmustern, Emotionen, zugehöriger Körperstruktur und den verarbeiteten Erfahrungen im Bewusstsein und im Unbewusstsein. Unter Struktur verstehe ich den gewordenen Zusammenhang von Elementen oder Modi der Persönlichkeit. Du denkst z.B. an eine bestimmte Person, etwa einen Vorgesetzten, und bist zugleich mit Glaubensätzen, Handlungsmustern, Emotionen, Körperhaltung usw. verbunden. All diese unterschiedlichen Elemente oder Modi sind nicht isoliert voneinander sondern zusammenhängend als Strukturen aufgebaut und wirken ihrerseits wieder zusammen als eine Gesamtstruktur, als Deine Persönlichkeitsstruktur.

 

Für Dich ist es so: Das bist Du! Und so, wie Du bist, führen einige Verhaltensmuster zu großartigen Erfahrungen und andere tun weh. Immer wieder. Aber Du bist ja nun mal so. Du bewertest Deine Erfahrungen in positiv und negativ. Du strebst danach, Deine positiven Erfahrungen zu maximieren und die negativen zu minimieren, vielleicht auch auszumerzen. Einige Handlungsmuster versuchst Du zu vermeiden, oder abzuschwächen (z.B. Neid oder Eifersucht), weil Du „aus Erfahrung klug“ werden willst. Andere Handlungsmuster (z.B. Empathie) versuchst Du zu verstärken oder überhaupt erst neu auszubilden. In einem gewissen Umfang funktioniert das auch. Das Leben kann dadurch bunter und befriedigender werden. Wenn Dir das ausreicht, wirst Du Dich im Bereich Deiner Persönlichkeitsstruktur einrichten. Du wirst Dein Leben so leben, wie es das Schicksal nun mal bestimmt hat. Gipfelerlebnisse und transpersonale Seinsvorstellungen wirst Du als Ausnahme erfahren und als besonders schöne Erfahrungen in Deiner Struktur einordnen.

 

Wenn Du durch dieses Leben erfüllt bist, gibt es keinen Grund, daran etwas zu ändern. Manche Menschen sind in Ihrer Struktur glücklich. Doch die meisten leiden daran.

 

Nur wenn das Einrichten in Deiner Persönlichkeitsstruktur nicht klappt, wenn das Leiden zu groß oder die positiven Erfahrungen zu klein sind, dann macht es Sinn, etwas zu ändern. Dann hast Du auch die Beweggründe, weiter zu gehen.

Und noch ein anderer Grund treibt Dich über Deine Persönlichkeitsstruktur hinaus. Dies ist das wiederholte Erfahren einer als Mangel empfundenen inneren Leere oder einer unstillbaren Sehnsucht. Du magst zunächst versuchen, die Leere und den Mangel durch Erfolge, Status und Konsum oder Extremsport auszugleichen. Du magst versuchen, die Sehnsucht durch Sex, Drogenkonsum oder Fernreisen o.ä. zu befriedigen.

Doch wenn Du Dir gegenüber ehrlich bist, wirst Du Dir zugestehen, dass Deine Versuche Ersatzbefriedigungen sind, dass Du „eigentlich“ etwas anderes suchst. Wenn Du an das „Eigentliche“ kommst, dann bist Du bereit, jenseits Deiner Persönlichkeitsstruktur zu suchen. Dann gelangst Du in den Übergangsbereich.

 

 

 

 

Erfahrungen im Übergangsbereich

Seinserfahrungen

Im Übergangsbereich lernst Du zuerst persönliche Seinserfahrungen kennen. Dies sind Erfahrungen, deren Du Dir als Persönlichkeit bewusst wirst. Du machst dies Erfahrungen. Die Subjekt-Objekt-Struktur ist noch in der Wahrnehmung vorhanden. Die Erfahrungen sind zumindest in der Erinnerung noch dual. In Ausnahmesituationen erfährst Du in Erkundungen, Meditationen oder bei Erlebnisse in der Natur eine Ausweitung Deiner bisherigen Wahrnehmungen in Erfahrungen des Sein. Das können ganzheitliche Seinserfahrungen sein oder Erfahrungen mit Seinsqualitäten wie Stärke, Liebe, Klarheit, Existenz oder auch personales Sein. Diese Erfahrungen sind alle dadurch charakterisiert, dass die Verhaltensmuster Deiner Persönlichkeitsstruktur nicht mehr funktionieren oder nicht mehr wichtig sind. Du bist im Bereich des Seins nicht mehr mit ihnen identifiziert. Doch Du kannst die Seinserfahrungen weder aus der bisherigen Persönlichkeit heraus hervorbringen noch willentlich bestimmen. Seinserfahrungen sind von der Persönlichkeit aus erfahren Akte der Gnade. Sie werden Dir geschenkt, wobei das „Dir“ für Dich in Deiner Persönlichkeitsstruktur steht. Denn eigentlich bist Du immer im Sein, nur nicht mit dem Sein identifiziert. Die Unzugänglichkeit des Seinsbereichs für den persönlichen Willen kränkt Dich in Deiner Persönlichkeitsstruktur. Du kannst Dich daher noch mehr bemühen, willentlich ins Sein zu gelangen, und wirst das Sein daher noch intensiver verfehlen. Dies ist eine Erfahrung, die alle spirituellen Sucher machen.

Erleichtern von Seinserfahrungen

Im Übergangsbereich kannst Du zwar keine Seinserfahrungen erzwingen, Du kannst jedoch den Übergang ins Sein durch Erkundungsprozesse, durch Achtsamkeit und besondere Übungen erleichtern.

Hindernisse im Sein zu sein

Du möchtest mehr im Sein sein, doch das gelingt nicht. Nach einer kurzen Seinserfahrung bist Du „schwups“ wieder in Deiner normalen, bekannten, von Deiner Persönlichkeit strukturierten Erfahrungswelt.

Du suchst nach Gründen. Da mögen im Außen Gründe sein wie Arbeitsbelastung, Familie, Hobbies, Verpflichtungen. Doch alle diese Gründe fußen auf Deiner Persönlichkeitsstruktur. Denn Du hast Dir Dein Leben so eingerichtet. Das ist nicht richtig oder falsch. Es ist das Ergebnis Deiner Biografie in der von Dir so geschaffenen jetzigen Umwelt. Du kannst Dich an dieser Stelle mit den Ergebnissen Deiner Persönlichkeitsstruktur auseinandersetzen, mit dem, was Du manifestiert hast. Halte Dich nicht mit einer Opferhaltung auf. Du könntest jeden Augenblick Dein Leben, Deine Umwelt ändern, z.B. nach Patagonien auswandern. Du tust dies aber nicht weil … Die Punkte stehen für die einzelnen Strukturen Deiner Persönlichkeitsstruktur, z.B. für ein Glaubenssystem, dass Du nun mal so bist, wie Du bist und sowieso nichts ändern kannst. Oder dass Du wartest, bis die Welt gerecht ist, und dann …

Erkennen von Einzelheiten Deiner Persönlichkeitsstruktur

Nun kannst Du in eine Phase eintreten, wo Du – fast wie von außen – anhand Deiner Gewohnheiten und Vorlieben erkennen kannst, woher Du kommst, wenn Du handelst. Handelst Du aus Deiner Persönlichkeitsstruktur heraus oder aus dem Sein heraus? Der teilnehmende Beobachter in Dir kann unterscheiden, woher Du kommst, wenn Du etwas tust. Dein Tun hat dann einen unterscheidbaren Ausgangspunkt, eine unterscheidbare Motivation und eine unterscheidbare Energie.

Du handelst zumeist aus dem Kopf heraus, wenn Du aus Deiner Persönlichkeitsstruktur heraus handelst. Und das Handeln ist mit einem Spannungszustand in Dir verbunden, der sich oft dumpf anfühlt, denn Du musst immer etwas tun. Aus diesem Spannungszustand heraus bildet sich der Impuls zum Handeln.

Wenn Du hingegen aus dem Sein heraus handelst, dann kommt der Impuls aus der Mitte Deines Körpers, aus dem Herz-, Brust- oder Bauchraum heraus. Dieser Impuls breitet sich wie eine Quelle im jeweiligen Raum aus und die Handlungsimpulse folgen dieser Ausbreitung. Das Wissen, das Du etwas tun musst, entsteht erst gar nicht. Du tust das einfach, selbstverständlich. Du brauchst Deinem Selbst nicht erst zu beweisen, dass Du etwas tun musst.

Letztlich ist es Deine Persönlichkeitsstruktur, die Dich daran hindert, mehr im Sein zu sein. Du kannst die Hindernisse immer dann erkennen, wenn Du Dich fragst, „warum bin ich jetzt eigentlich nicht im Sein“ oder „was hindert mich am Sein“? Was hindert mich daran? Was ist mir wichtiger? Ist es mir z.B. wichtiger diese Person anzurufen oder

 

Die Sucht nach der Struktur und die Sehnsucht nach dem Sein

Du wirst vielleicht erkennen, dass die Persönlichkeitsstruktur wie eine Sucht wirkt. Du beschäftigst Dich mit Aspekten Deiner Persönlichkeitstruktur anstatt zu sein, du bist in Modi Deiner Persönlichkeitstruktur anstatt zu sein. Du kannst diese Sucht als Sucht empfinden, als Drang etwas Bestimmtes zu tun. Du kannst dies deutlich spüren, indem Du darauf verzichtest, der Sucht nachzugehen. Dann spürst Du Entzugserscheinungen wie Unruhe, Spannungen, Panik, die sofort aufhören, wenn Du das tust, wonach es Dir verlangt.

Dieser Sucht steht die Sehnsucht nach dem Sein gegenüber. Die Sehnsucht fühlt sich anders an als die Sucht. Während die Sucht drückt, zieht die Sehnsucht. Du musst nicht etwas Bestimmtes tun, sondern Du willst woanders hin.

In jeder Situation kannst Du Dich neu entscheiden: Was ist Dir wichtiger? Was willst Du von der Persönlichkeitsstruktur opfern, um im Sein zu sein? Und wie viel? Du brauchst keine Angst zu haben. Im Übergangsbereich kommst Du immer wieder zur Persönlichkeitsstruktur zurück. Doch die Ausflüge können sich lohnen.

 

Die Persönlichkeitstruktur als kondensiertes, doppelt reaktives Sein

An dieser Stelle im Prozess hilft Dir der Ansatz von Almaas weiter. Denn die Persönlichkeitsstruktur ist ja nichts seinfremdes. Sie ist das Sein, das Du bisher realisiert hast. Nur ist dieses Sein insofern kein Sein, weil es nicht in der Realität, nicht im Hier und Jetzt ist. Es ist die Erinnerung an früheres Sein, die Erinnerung an vergangene Situationen, kondensiertes Sein. Beim Kondensationsprozess, d.h. beim Prozess der Erinnerungsbildung, wird die tatsächliche Erfahrung verarbeitet. Sie wird komprimiert und mit Aspekten früherer Erfahrungen verbunden und in diesem Kontext als Muster gespeichert. Das ist ein ganz normaler Prozess der Informationsverarbeitung im Gehirn. Doch schon die Realität, die so abgebildet, kondensiert wird, ist nicht die Realität, sondern eine Erinnerung. In dieser Erinnerung ist Deine Reaktion auf frühere Anforderungen gespeichert. Besonders wichtig für Dein Verhältnis zum Sein werden Deine Reaktionen auf die Reaktionen Deiner Umwelt, wenn Du im Sein warst. Ein Beispiel: Du lernst laufen und fühlst Dich mit dem Seinsaspekt der Stärke verbunden. Dann hörst Du von Deiner Mutter „pass auf, geh nicht so schnell“. Du spürst, dass Deine Mutter gar nicht wahrnimmt, wie stark Du bist. Doch die Mutter ist wichtig und Du wirst unsicher. Die Unsicherheit ist Deine Reaktion auf die Reaktion Deiner Mutter. Was Du vielleicht als Erinnerung speicherst ist nicht die Erfahrung mit dem Seinsaspekt der Stärke sondern dass das Gehen eine unsichere Angelegenheit ist. Du speicherst Deine Reaktion auf die Reaktion Deiner Umwelt, wie sinnvoll diese Reaktion der Umwelt auch gewesen sein mag. Deine Persönlichkeitstruktur wird überwiegend durch deine verarbeiteten Re-aktionen, d.h. auf Deine Antworthandlungen auf die Reaktionen Deiner Umwelt auf Dich gebildet. Du beziehst Deine Persönlichkeitsstruktur eben nicht aus Deinen Seinserfahrungen sondern aus Deinen Reaktionserfahrungen auf die Reaktion der Umwelt.

Wenn Du von der Persönlichkeitsstruktur aus auf die Realität reagierst, orientierst Du Dich, als ob Du auf der Autobahn fährst und dabei nur den Rückspiegel sehen kannst. Was alles vor Dir ist (d.h. die Realität vor Dir), kannst Du nicht sehen, da Du nur den Ausschnitt des Rückspiegels siehst. Der Rückspiegel ist für Dich die Realität.

Wenn Du in einer Situation handelst, dann beziehst Du Dich auf vorhergehende Erfahrungen und auf die entsprechenden Muster Deiner Persönlichkeitsstruktur. Du erinnerst Dich unbewusst zum Zwecke der Orientierung an Deine Erfahrungen und handelst entsprechend. Das mag hilfreich sein, um lebend über eine Straße zu gelangen. Doch schon in Konfliktsituationen knüpfst Du an Deine Konflikterfahrungen an und kannst so das Neue in der Situation verpassen. In den meisten Situationen handelst Du vergangenheitsorientiert oder zukunftsorientiert, doch nicht im Hier und Jetzt. Du bist nicht achtsam sondern handelst in Routinen.

Diese Routinen geben Dir auf der einen Seite Sicherheit. Auf der anderen Seite halten sie Dich aber von dem, was im Hier und Jetzt ist, fern. Da das Sein nur im Hier und Jetzt ist, verpasst Du auf diese Weise das Sein.

 

Im Übergangsbereich kannst Du auf unterschiedliche Weise aus dem Sein heraus handeln. Wichtig ist der Ausgangspunkt. Du kannst von der Persönlichkeitsstruktur aus in Sein gelangen oder durch Übungen ins Sein gelangen und dann handeln.

 

Was es braucht, um von der Persönlichkeitstruktur ins Sein zu gelangen, ist das Aufgeben der Identifizierung mit der Persönlichkeitsstruktur. Dann kannst Du das Wissen aus Deinen bisherigen Erfahrungen noch weiter verwenden, jedoch kannst Du handeln, als wäre jede neue Situation die erste Situation. Du beginnst jede Situation neu. Deine Handlungen mögen dann die gleichen sein wie vorher, oder auch nicht, jedoch kommst Du diesmal nicht aus Deiner Persönlichkeitsstruktur, sondern aus dem Sein heraus.

Hierzu gibt es unterschiedliche Zugänge.

 

Methodische Wege der Verbindung mit dem Sein

Da das Sein nur anstelle der Persönlichkeitsstruktur erfahren werden kann, gibt es keinen methodischen Weg von der Struktur ins Sein. Der Übergang ist immer ein Akt der Gnade. Dennoch sind wir, dem Ansatz von Almaas folgend, immer schon im Sein. Wir haben nur den Zugang verloren, die Seinserfahrung abgespalten. Die folgenden Wege führen Dich bis zum Tor. Der Eintritt kann dort nicht erzwungen werden, doch beim Tor bist Du schon nahe dran.

Seinorientiertes Handeln aus der Bewusstheit heraus.

Ein Tor zum Sein ist die entwickelte Bewusstheit. Du bist so bewusst, dass Du die Identifikation mit Deiner Persönlichkeitsstruktur nicht einnimmst, nicht eingehst. Dieses Aufgeben der Identifizierung mit der Persönlichkeitsstruktur ist ein voraussetzungsvoller Prozess. Denn Du verzichtest auf das In-Eins-Setzen, das unbewusste Anknüpfen mit Deinen Vorstellungen von „Dir selbst“, von dem, was Du in der entsprechenden Situation tun kannst, tun sollst, tun möchtest.

Zunächst einmal brauchst Du Bewusstheit. Du musst bereit sein, die entstehende Situation mit ganz neuen Augen zu betrachten. Du musst „hellwach“ sein und darfst nicht wieder „einschlafen“, d.h. in die routinemäßige Identifikation gehen. Dir muss bewusst sein, wie Du normalerweise in dieser Situation denken, werten, fühlen und handeln würdest. Und Du wartest anstatt unbewusst zu handeln darauf, was sich ergibt. Dieses Warten ist nicht passiv, sondern Du bist neugierig, was in Dir vorgeht und folgst den Impulsen, die sich einstellen. Hierzu musst Du unterscheiden können zwischen der Handlungsanbahnung durch die Persönlichkeitstruktur und im Sein.

Weiterhin brauchst Du Vertrauen, dass sich etwas ergibt und dass das, was sich ergibt, gut für Dich ist. Selten wirst Du allein aus der Bewusstheit heraus, so handeln können. Denn auch in der Bewusstheit klingen dann alle Alarmglocken aus Deiner Persönlichkeitsstruktur, denn die dort gemachten Erfahrungen kennzeichnen ja Dich, das bist Du, so, wie Du geworden bist. Doch probiere dieses Handeln einmal in Situationen aus, wo Du Dich traust.

 

Aufgeben der Identifizierung mit der Persönlichkeitsstruktur

Wenn Du etwas genauer unterscheiden kannst, wann und wo Du in Deinen Persönlichkeitsstrukturen bist, dann kannst Du die Identifikation bewusst aufgeben. Normalerweise bist Du immer in einem bestimmten Modus Deiner Persönlichkeit. Der muss Dir bewusst werden, damit Du ihn aktiv loslassen kannst. Hier einige Hinweise.

Du denkst den Gedanken nicht mehr weiter. Du führst einen Handlungsimpuls nicht mehr aus. Du lässt das Gefühl, mit dem Du verbunden bist sein. Du bist mit ihm und es wird sich, wie bei einer Erkundung, irgendwann verändern. Du lässt die Bewertung, die Dich beschäftigt los. Du kehrst aus einer Erinnerung, in der Du befangen bist, zurück in die Gegenwart. Das Gleiche machst Du mit einer in die Zukunft gerichteten Phantasie. Du lässt ein Glaubenssystem los, indem Du Dir z.B. sagst, dass es auch noch andere Glaubenssysteme gibt. Du nimmst eine Körperempfindung wahr und lässt sie sein. Wenn es ein Schmerz ist, wirst Du etwas länger dabei sein müssen, bis er neben dem steht, was nun entsteht.

Wenn Du Deine Identifizierung in einem Modus losgelassen hast, wirst Du in einen Übergangsbereich kommen, wie mangelhafte oder erfüllte Leere, eine Raumerfahrung o.ä., so, wie Du es aus Erkundungsprozessen kennst. Doch zumeist wird sich ein neuer Modus Deiner Persönlichkeitsstruktur melden, wie ein Gedanke, eine Stimme, ein Gefühl, eine Bewertung o.ä., der wiederum losgelassen werden kann.

 

Wenn Du in den Modus des Übergangsbereichs kommst, dann bleibe dabei. Lass es zu. Du brauchst nichts zu tun. Der Übergangsbereich führt Dich entweder zurück in Deine Persönlichkeitsstruktur oder ins Sein. Wichtig ist nur, dass Du bei diesen Prozessen bewusst bleibst, d.h. nicht einschläfst.

Handeln aus dem Sein heraus nach einer Erkundung

Oft landest Du bei einem Erkundungsprozess in einem Seinszustand. Bei einem Erkundungsprozess bist Du zunächst in einer besonderen reflexiven Situation. Du sitzt vielleicht in einem Sessel, hast Dein Diktaphon oder Deinen Schreibblock neben Dir oder einen Unterstützer. Der Erkundungsprozess endet mit einem tieferen Verstehen von Phänomenen und Du würdest jetzt ins normale Handeln zurückkehren. Du spürst schon, wie Du die Spannung und das Muss der Handlungsanbahnung aus der Persönlichkeitsstruktur heraus anbahnst. Du willst Dir z.B. einen Tee zubereiten, oder ein Telefonat führen.

Doch diesmal entscheidest Du Dich dazu, im Sein zu bleiben. Wenn Du zu dieser Entscheidung in einen rationalen, durch Gedanken geführten Entscheidungsprozess eintrittst, vielleicht sogar noch mit einer Kosten-Nutzenabwägung, dann kommst Du allein durch diesen Vorgang schon ganz automatisch in Deine Struktur. Denn im Sein ist dies nicht erforderlich. Also brauchst Du eine „leise“ Entscheidung, fast einen kleinen Wunsch, der Dich nicht schon aus dem Seinszustand heraus reißt. Vielleicht kannst Du Dich behutsam noch weiter oder tiefer in den Seinszustand hinein lassen, ihn vertiefen. Auch das darf nur sehr behutsam geschehen, wenn es nicht den gegenteiligen Effekt haben soll.

Nun bleibst Du bewusst im Seinszustand und tust das, was zu tun ist. Und das ist das, was auftaucht, was auch immer auftaucht. Oft wird das Handeln aus dem Seinszustand ganz undramatische Themen haben. Vielleicht wirst Du Deine Blumen gießen oder Deine Aufmerksamkeit wird von irgendetwas im Raum angezogen. Du handelst zunächst sehr behutsam, packst Deine Impulse in Watte, denkst, planst und benutzt all die Egofunktionen nur im Hintergrund. So, wie eine Musik im Hintergrund läuft, während Du Dich auf eine liebe Person konzentrierst. Wie lange Du im Seinszustand verbleiben kann, hängt vom Ausmaß Deiner Achtsamkeit ab.

Und diese Achtsamkeit ist trainierbar.

Handeln aus dem Sein heraus nach meditativen Übungen

Wenn Du durch die Zirkulations- oder der Extremitätenübung in den Seinszustand gelangt bist und nun etwas anderes machst, dann verlässt Du den Kontext der Übungen. Du gehst etwa zur Arbeit oder telefonierst. Normalerweise verlässt Du dann das Sein, weil Du dich mit anderen Dingen identifizierst. Dieser Prozess beginnt schon mit dem Impuls, etwas zu tun und er setzt sich fort durch die Bezugnahme auf das, was zu tun ist. Diese Bezugnahme ist schon Identifikation. Denn das normale Tun ist mit der Persönlichkeitsstruktur verbunden und nicht mit dem Sein. Du identifizierst Dich mit den Aspekten des Tun, mit dem, „was zu tun ist“. Dies ist so normal und eingeübt, dass Du diesen Prozess unbewusst vollziehst und er Dir erst bewusst wird, wenn irgendwas in der Handlungsroutine nicht klappt. Du vergisst etwa Deine Haustürschlüssel, wenn Du zur Arbeit gehst oder Dir fällt die Nummer Deines Telefonpartners nicht ein, den Du anrufen willst.

Wenn Du den Seinszustand aus der Übung weiter aufrecht erhalten willst, dann ist es wichtig, Dich nicht mit den Aspekten des Tun zu identifizieren. Mit hilft es, wenn ich mich zuvor mit dem Seinszustand identifiziere. D.h. noch mehr bin, tiefer bin, bewusster bin. Für mich ist das eine Empfindung, als ob ich mich im Sein zurück lehne. Auch lasse ich den Impuls zum Tun nur etwas zu. Und ich lasse ihn nur zu, wenn er aus dem Sein kommt, also in mir aufsteigt. Wenn der Impuls als Druck kommt, „ich muss jetzt das und jenes tun“, dann kennzeichne ich diesen Impuls als einen aus meiner Persönlichkeitsstruktur. Dies ist nicht schlecht, und vielleicht muss ich ja wirklich was tun. Doch jetzt beschreibe ich, wie ich im Seinszustand nach Meditationen und Übungen bleibe.

Auch die weiteren Orientierungen, die mit dem Tun verbunden sind, lasse ich nicht so scharf werden. Ich identifiziere mich nicht damit. Das ist für mich so, als ob die die Handlungsorientierungen in Watte packe, so, als ob ich das „auch“ mache, während meine Aufmerksamkeit weiterhin bei den Phänomenen des Seinszustandes verbleibt.

 

Wie alles, braucht auch dieses Verhalten der Übung und setzt die Stärkung der Aufmerksamkeitsspannweite voraus. Bei meinem bisherigen Stand, falle ich aus dem Sein heraus, wenn beim Tun neue Aspekte auftauchen.

Beispiel: Ich führe mit meinem Lehrer beim Jodo eine Übungsfolge durch. Hierbei bin ich achtsam, ganz bei mir, im Sein. Solange mein Lehrer im gewohnten Übungsrahmen bleibt, kann ich die bekannte Übungsfolge durchführen und dabei im Sein verbleiben. Wenn er auch nur ein Element verändert, ich mich also auf eine neue Situation einstellen muss, dann falle ich in meine Persönlichkeitsstruktur zurück und handle wie immer, wenn ich plötzlich vor neuen Anforderungen stehe.

 

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© Dr. Volker Buddrus